Startups in Wiesbaden : Eine Standortbestimmung
Fotos: Annika List, Fitvia

Dieser Text von Timm Leibfried, Head of News & Stories bei STATION, erschien zuerst als Gastbeitrag in der aktuellen Printausgabe des Wiesbadener Stadtmagazins sensor.

Startups sind hip, Unternehmer sein ist angesagt. Dass die Gründerszene es inzwischen in den gesellschaftlichen Mainstream geschafft hat, liegt auch an polarisierenden “Startup-Promis” wie Frank Thelen, Unternehmer, Bestseller-Autor und nicht zuletzt dank des TV-Formats „Die Höhle der Löwen“ laut Wirtschaftswoche „der Popstar der deutschen Start-up-Welt“. Bei den Standorten richtet sich der Blick der Öffentlichkeit nach wie vor insbesondere auf Berlin. Doch auch kleinere Städte und ländliche Regionen produzieren zunehmend Erfolgsgeschichten von innovativen Jungunternehmern. Die Frage, wo Wiesbaden hier im Vergleich steht, ist also durchaus berechtigt. Ihre Beantwortung wiederum gar nicht so einfach.

9 Uhr morgens an einem kalten Tag im März. Das Café Heimathafen ist nahezu bis auf den letzten Platz gefüllt. MacBooks auf den Tischen, Gute-Laune-Beats aus den Boxen, Sojamilch im Chai Latte – auch in Wiesbaden gibt es Orte, an denen Startup-Klischees dieser Sorte erfüllt werden. Der Heimathafen gilt als Epizentrum der lokalen Gründerszene. Neben dem gastronomischen Angebot und WLAN für zwei Stunden gibt es hier auch einen Coworking Space sowie zahlreiche Veranstaltungen für Gründer und solche, die es werden möchten.

Mittendrin finden wir Dominik Hofmann, Gesicht und Hirn hinter dem Heimathafen und in Wiesbaden als durchaus umtriebige Unternehmerpersönlichkeit bekannt. Bis 2014, als der 34-Jährige mit der Eröffnung der Räumlichkeiten in der Karlstraße 22 eine der ersten Anlaufstellen für Jungunternehmer schuf, hatte es so etwas wie eine echte Startup-Szene in Wiesbaden schlichtweg nicht gegeben. Heute zeichnet sich der Heimathafen durch seine wachsende Community aus, die vom regelmäßigen Austausch lebt, sich gegenseitig hilft und an gemeinsamen Projekten arbeitet. Formate wie „Donnerstalk“ oder „Gründerfrühstück“ und „Gründer berichten“ locken Gründer in Scharen an, aber auch Neugierige lauschen gerne den oft faszinierenden Stories der Speaker aus Wiesbaden und Rhein-Main.

Regionales Ökosystem statt “Startup-Stadt”

Angesprochen auf das Potenzial der “Startup-Stadt” Wiesbaden im Vergleich zu anderen Standorten in Deutschland ist sich Hofmann sicher, dass Wiesbaden ein eigenes Profil entwickeln kann und der fortwährende Vergleich mit Metropolen nicht sinnvoll ist. Zum einen, weil auch er die ständigen Berlin-Vergleiche einfach nicht mehr hören kann. Zum anderen, weil Wiesbaden auf andere Voraussetzungen und Branchen trifft und darüber hinaus als Teil der größeren Startup-Region zu sehen sei.

Worauf Hofmanns Einordnung unter anderem abzielt, ist die Idee eines sogenannten Ökosystems, zu dem neben den Startups selbst und Plattformen wie dem Heimathafen auch Investoren, etablierte Unternehmen, regionale Talente und Hochschulen sowie  Politik, Verwaltung und Medien zählen: Sie alle werden benötigt und sind gefordert, sich bestmöglich zu öffnen und einzubringen, damit eine Gründerszene florieren und überhaupt entstehen kann.

Eine zentrale Chance eines sogenannten Startup-Ökosystems, das sich über das Rhein-Main-Gebiet inklusive Frankfurt erstreckt, sieht der 34-Jährige gerade in der Zusammenarbeit zwischen Startups und der etablierten Wirtschaft. Zwar läuft es für viele Konzerne, Mittelständler und Dienstleister gefühlt weiterhin ziemlich rund. Allerdings – und das dürfte kein Geheimnis mehr sein – sind sie mittelfristig auf innovative, meist digitale Lösungen angewiesen, um wettbewerbsfähig zu bleiben. Für Gründer kann das ein idealer Nährboden sein, um nachhaltig zu wachsen. Außerdem haben wir es in Rhein-Main mit einem Standortvorteil zu tun, wie ihn etwa Berlin nicht bietet: Nämlich eine der stärksten Wirtschaftsregionen Deutschlands mit viel Potenzial für Kollaborationen der Innovations- und Startup-Szene mit dem Mittelstand.

Gutes Image als entscheidender Erfolgsfaktor

Einer dieser neuen, digitalen Hidden Champions könnte Flyingshapes aus Mainz werden. Jonas Kunze und Dr. Johannes Mattmann treiben derzeit die Entwicklung einer Software voran, die es Designern in Unternehmen ermöglicht, per Virtual Reality in kürzester Zeit 3D-Modelle zu erstellen und so die Entwicklung vieler Produkte massiv zu beschleunigen. Die Gründer stehen mit dem Aufbau ihres Unternehmens zwar noch am Anfang, dennoch verfolgen sie das klare Ziel, in der Region Fuß zu fassen. “Wir sind im Rhein-Main-Gebiet verwurzelt. Deshalb wäre es großartig, wenn wir Unternehmen wie Braun oder Opel als Kunden gewinnen könnten”, nennt Mattmann zwei konkrete Beispiele. Wichtig sei außerdem die Zusammenarbeit mit designorientierten Hochschulen in Offenbach oder Wiesbaden.

Hochschulen und Universitäten bewertet auch Matthias Helfrich als starkes Argument für die Gründer-Region. Der Unternehmer und Business Angel ist ebenfalls der Meinung, dass Wiesbaden als Gründer-Standort im Gesamtkontext des Rhein-Main-Gebiets betrachtet werden muss. Dennoch müsse die Landeshauptstadt schon selbst dafür sorgen, dass man für jüngere Menschen wieder attraktiver wird. “Das ist eine ganz wichtige Aufgabe für Politik und Gesellschaft. Im Kern ist das sogar eine Voraussetzung für erfolgreiche Start-up-Entwicklung”, unterstreicht der 53-Jährige das Imageproblem, mit dem Wiesbaden mitunter zu kämpfen hat.

Mit 500 Euro zum Millionen-Unternehmen

Helfrich hat in den letzten Jahren selbst zwölf Startups finanziell unterstützt, von denen jedes vierte einen Bezug zu Wiesbaden hat. Aus eigener Erfahrung weiß der Wahlberliner mit Zweitwohnsitz und Büro in Wiesbaden, dass es für junge Unternehmen in den ersten zwei Jahren nach der Gründung entscheidend ist, externe Mittel an Land zu ziehen, um wachsen zu können. Diese sogenannte Seed-Finanzierung wird häufig von Business Angels erbracht. “Da diese neben Kapital auch ‘Smart-Money’, also Know-how und  Netzwerk, zur Verfügung stellen, hat die Regionalität hier viele Vorteile”, erklärt Helfrich. Das Problem: Es gibt noch vergleichsweise wenige Personen, die Geld und Know-How für Startups locker machen. Und zwar deutschlandweit.

Nicht alle Gründer sind auf Fremdkapital angewiesen. Der Wiesbadener Sebastian Merkhoffer startete sein Startup Fitvia vor rund fünf Jahren im Wohnzimmer seiner Eltern. Als Startkapital lieh er sich 500 Euro von seinem Vater. Seine Geschäftsidee: Exotische Teesorten in hochwertigen Verpackungen von Social-Media-Stars und -Sternchen reichweitenstark auf Instagram, Facebook und YouTube bewerben lassen, damit Fans und Follower die Produkte anschließend bei ihm ordern. Der Plan ging auf: Mit seinem Mischkonzept aus Onlinehandel und Influencer Marketing schreibt Merkhoffer heute achtstellige Umsätze.

Zugegeben: Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Startup ohne nennenswertes Fremdkapital quasi aus dem Stand zu einem Unternehmen mit zweistelligem Millionen-Umsatz und 55 Mitarbeitern heranwächst, ist verschwindend gering. Doch nicht nur deshalb ist Fitvia ein echter Exot in der regionalen Startup-Landschaft, würde man ein derartiges Geschäftsmodell doch eher im hippen Berlin oder im trendbewussten München verorten. Aus Sicht von Merkhoffer ist der Standort Wiesbaden allerdings kein Nachteil, ganz im Gegenteil: So habe man einen idealen Zugang zu lokalen Talenten, die beispielsweise eben ausdrücklich nicht nach Berlin ziehen möchten, erklärt der 29-Jährige.

Hiergeblieben sind auch die Gründer von Acáo. Noch als Studenten brachten Florens Knorr, Michael Noven und Christopher Reimann  2013 ihren veganen Bio-Energy-Drink an den Start, der nach zaghaften Anfängen zur bundesweiten Erfolgsgeschichte wurde. Kürzlich präsentierten sie den ersten biozertifizierten ISO-Drink Deutschlands, abgefüllt in Flaschen aus 100 Prozent recyceltem Plastik. Inzwischen haben die Acáo-Gründer, verstärkt durch Arne Wüllner, 2016 den Startup-Seed-Accelerator Pando Ventures gegründet. Dieser hilft mit neun Mitarbeitern außer ihrem eigenen Produkt auch anderen Geschäftsideen auf die Sprünge, mit Firmensitz in Wiesbaden und Campus in Idstein.

“Mehr Leidenschaft in anderen Bundesländern”

Dass es trotz aller Zukunftschancen und positiver Entwicklungen in Sachen Startups noch viel Luft nach oben gibt – sowohl auf regionaler Ebene als auch in Wiesbaden selbst – darin sind sich alle einig. Investor Helfrich sieht hier auch die Politik in der Pflicht, um die Situation zu verbessern: “Die hessische Landeshauptstadt sollte den Ehrgeiz haben, ein sehr vitales Startup-Ökosystem zu entwickeln – unabhängig davon, was in Mainz, Frankfurt oder Darmstadt passiert.” Generell beobachtet Helfrich, dass “andere Bundesländer sehr viel mehr Leidenschaft und finanzielle Mittel in Startups stecken als Hessen”.

Dominik Hofmann appelliert ausdrücklich auch an Wirtschaft und Verwaltung, sich zu öffnen und die Gründerszene aktiv und nach den jeweiligen Möglichkeiten zu fördern. Zudem wünscht sich der Heimathafen-Macher generell einen längeren Atem. Schließlich habe man vor gerade einmal fünf Jahren damit angefangen, die Grundlagen zu schaffen, um innovative Geschäftsideen strukturell zu fördern. Die Entwicklung sei zwar vielversprechend, doch die Schwelle zu einer echten regionalen Startup-Bewegung habe man noch nicht überschritten. “Was wir jetzt brauchen sind Leute, die wirklich etwas reingeben und nachhaltig mitgestalten wollen”, so Hofmann.

Hört man sich in der Wiesbadener Gründerszene um, findet es zudem kaum jemand hilfreich, wenn bei der medialen Betrachtung des Startup-Standortes Wiesbaden vor allem Negativ-Aspekte herausgepickt und thematisiert werden. Klar, die viel kritisierte Finanzierungssituation für Startups ist alles andere als ideal. Doch gerade um regionale Geldquellen, die es zweifelsohne gibt, zu mobilisieren, ist es erforderlich, die jeweiligen Entwicklungen in einem Ökosystem differenziert zu bewerten und entsprechend darzustellen.

Frank Thelen in Wiesbaden

Meckern hilft wenig, Anpacken ist gefragt. Helfrich gründet gerade mit Gleichdenkenden das Investoren-Netzwerk Wiesbaden. Dabei handelt es sich um einen Verein, der mögliche Business Angels – insbesondere solche, die sich mit Startups bislang noch nicht intensiv auseinandergesetzt haben – mit lokalen Gründern zusammenbringen will. Dominik Hofmann und sein Team haben im vergangenen Jahr ein Förderprogramm für nachhaltige Geschäftsmodelle geschaffen. Zudem werden die Pläne des Heimathafens, im Alten Gericht – in direkter Nachbarschaft zum gerade eröffneten „Campus Wiesbaden“ der Hochschule Fresenius – die lokale Innovationsszene anzusiedeln und einen Ort des Austausches und der Kreation zu schaffen, immer konkreter.

Die Hochschule Fresenius hat Hofmann für seine Vision bereits als Partner ins Boot geholt, ebenso die Nassauische Sparkasse. Ganz offen lädt Hofmann auch Politik und Wirtschaft ein, das Alte Gericht zu “umarmen”, um so die relevanten Akteure des Ökosystems an einem Ort zu konzentrieren und ihre Potenziale zu bündeln. Es wäre wünschenswert, wenn es so käme. Denn eines steht fest: Unternehmerische Erfolgsgeschichten aus Wiesbaden und Umgebung, die auch national die Runde machen, wird es nur geben, wenn alle an einem Strang ziehen.

Die Schlagzeilen könnten nun sogar schneller kommen als gedacht: Am 27. und 28. April schaut ganz Startup-Deutschland auf Wiesbaden, wo zum Founder Summit im Kongresszentrum rund 5.000 Besucher erwartet werden. Neben zahlreichen Veranstaltungsformaten von und für Startups geben auf der Bühne Promis aus der nationalen und internationalen Gründerszene ihre Erfahrungen zum Besten. Unter anderem mit dabei: Frank Thelen.

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