Auch an anderen Orten in Europa und der Welt werden Geschäftsmodelle entwickelt und Innovationen vorangetrieben. Von Standort zu Standort gibt es Unterschiede, mal größere, mal kleinere. Wir tauchen für euch in fremde Ökosysteme ein und sprechen mit den Machern vor Ort. Den Anfang unserer Serie macht Zürich, die größte Stadt der Schweiz, einer der wichtigsten Finanzplätze Europas und Heimat einer Gründerszene, die Großes vorhat.
Zürich an einem sonnigen Vormittag im November. Wir sind verabredet mit Thomas Kessler, dem Gründer und CEO von Locatee, einem Startup im Bereich Proptech. Zum Coworking Space, in dem das Team seine Zelte aufgeschlagen hat, geht es vom Limmatplatz in Richtung Altstetten, den westlichsten Stadtteil der kompakten Metropole mit ihren 400.000 Einwohnern.
Angekommen am Bahnhof Altstetten gehen wir das letzte Stück zu Fuß. Was auffällig ist: Selbst außerhalb des Stadtzentrums sind die Logos der großen Finanzinstitute omnipräsent. Ein erster Hinweis darauf, welche Branchen die Schweizer Wirtschaft prägen und aus welcher Industrie die Gründerszene in Zürich einen Großteil ihrer Energie zieht.
Außen schnöde, innen das volle Programm
Der Coworking Space “Office Lab” in der Baslerstraße befindet sich in einem schnöden Bürogebäude. Was von außen erstmal nicht besonders hip aussieht, platzt auf den zweiten Blick nahezu vor Startup-Spirit: Knallige Farben, soweit das Auge reicht, ein Billardtisch sowie zahlreiche Meetingräume in unterschiedlichen Größen, die thematisch jeweils unterschiedlich angelegt sind.
Mittendrin finden wir schließlich Thomas Kessler, der mit seinen knapp zwei Metern Körpergröße kaum zu übersehen ist. Auch, weil er an diesem Tag einen Anzug trägt, was es wiederum einfacher macht, ihn sich in seinem vorherigen Job bei der Credit Suisse vorzustellen. Dort wurde er auch inspiriert, gemeinsam mit seinem alten Schulfreund Benedikt Köppel, damals bei der UBS, Locatee zu gründen.
Mit der “Strichli-Liste”
Kessler fand bei Crédit Suisse im Jahr 2013 relativ fortschrittliche Bedingungen vor: In einer modernen Arbeitswelt für rund 3.000 Angestellte konnte der 31-Jährige seinen Platz jeden Morgen frei wählen. Als eines Tages Studenten die Auslastung der einzelnen Arbeitsplätze per Hand mit “Strichli-Liste” zählten, fragte Kessler sich, ob man die Flächennutzung eines Großraumbüros selbst nicht effizienter analysieren könne.
Zur gleichen Zeit war auch Mitgründer Benedikt Köppel, heute CTO bei Locatee, bei der UBS in einem sehr agilen Umfeld tätig, auch wenn er selbst meistens einen Platz im Eingangsbereich bevorzugte. So kam es dazu, dass ihn immer wieder Leute nach Auskunft fragten, wo denn ein bestimmter Kollege sitzen würde. Köppel erkannte bald: Mit Hilfe bestimmter Daten aus der IT-Infrastruktur könnte ich diese Auskunft problemlos geben.
“Hohe Frustrationstoleranz”
Aus beiden Mängeln heraus – den fehlenden Möglichkeiten zur Positionsbestimmung von Kollegen sowie zur effizienten Analyse der Flächennutzung – entwickelten die Gründer eine Software-Lösung, mit der vorhandene IT-Daten von Unternehmen ausgewertet werden. Ziel ist es, auf dieser Basis Bürogebäude intelligenter zu machen. Zu den Kunden gehören untere anderem Swiss Re, Schweizer Post, Zürich Versicherungen oder Biogen. Das Pharmaunternehmen sparte sich durch die Analyse von Locatee die bereits geplante Anmietung von zusätzlichen Büroflächen.
Kessler berichtet sehr souverän vom stetigen Aufbau seines Unternehmens, dennoch gab es gerade zu Beginn auch skeptische Stimmen. Beim ersten Pilotprojekt für das IT-Unternehmen Inventx, wo der heutige CEO im Rahmen seiner Bachelor Thesis gearbeitet hatte, zweifelte der ein oder andere am Nutzen der jungen Software-Lösung äußerten. “Da mussten wir schon eine hohe Frustrationstoleranz mitbringen. Aber wir waren von unserem Produkt überzeugt und haben weitergemacht”, blickt Kessler zurück.
“Hier geht richtig was”
So schlecht kann sich das “heterogene Team”, wie Kessler sich und seinen Partner charakterisiert, allerdings nicht verkauft haben: Ausgerechnet Inventx-Chef Gregor Stücheli steigt als Investor bei Locatee mit ein. Zeitnah folgt mit Thomas Dübendorfer, einst IT-Professor von Co-Founder Köppel, einer der bekanntesten Business Angels der Schweiz. “Dieses Smart Money ist für uns erfolgskritisch, um wachsen zu können”, erklärt Kessler.
Die Startup-Szene in der gesamten Schweiz habe in den letzten zwei bis drei Jahren einen regelrechten Boom erlebt, was auch die Finanzierungsrunden zeigten: “Für einen vergleichsweise kleinen Standort geht hier richtig was”, bringt es Kessler auf den Punkt. Ein entscheidender Vorteil sei dabei auch, dass sich in der Schweiz eine große Anzahl von Corporates auf sehr engem Raum tummeln.
“Wir haben Spaß”
Angesprochen auf die Öffnung traditioneller Unternehmen für agile Startups, kann Kessler aus erster Hand berichten: “Vor drei bis vier Jahren waren Banken noch der Meinung, dass sie mit ihrer IT-Abteilung alles selbst machen können. Inzwischen hat ein Umdenken stattgefunden”, so der studierte Betriebswirtschaftler. Zwar seien die großen Finanzhäuser nach wie vor sehr mächtig, allerdings spürten sie den frischen Atem der Startups immer stärker.
Auf dem Arbeitsmarkt hingegen sind die Rollen unverändert klar verteilt. Ob sich jemand tatsächlich gegen ein lukratives Angebot aus einem großen Unternehmen und für den Job im Startup entscheidet, ist eine Typfrage, wie Kessler glaubt. Erschwerend hinzu komme für junge Unternehmen, dass Tech-Giganten wie Google Zürich zunehmend als Standort für sich entdecken und junge Talente anziehen. Auch aufgrund der Unternehmenskultur.
“Spürbarer Mehrwert für jeden”
Der Aspekt Unternehmenskultur ist ohnehin ein Thema, das Thomas Kessler umtreibt, das er selbst als “hoch emotional” bezeichnet. Bei Locatee selbst herrscht ein typischer Startup-Spirit mit flexiblen Rahmenbedingungen, die auf einer gesunden Basis aus gegenseitigem Vertrauen und Spaß an der Arbeit fußen.
Dass es Kessler auch bei der Weiterentwicklung von Locatee um deutlich mehr geht, als die Optimierung von Flächen, Betriebsprozessen und Facility Management, wird zum Ende des Gesprächs deutlich: “Jetzt, wo wir unser Geschäftsmodell global skalieren können, wollen wir mit Locatee auf lange Sicht für jeden Deskworker einen spürbaren Mehrwert schaffen. Langfristig wollen wir intelligente Bürogebäude entwickeln, welche die tägliche Arbeit unterstützen. Wir wollen, dass Orte entstehen, an denen Menschen arbeiten wollen und nicht müssen”, formuliert er seine Vision. Ruhig und sachlich, als sei es der logische nächste Schritt.
Im zweiten Teil unseres Zürich-Reports haben erfahrt ihr, was in der Schweiz getan wird, um Kooperationen zwischen Startups und Corporates nachhaltig zu fördern und wie unsere Nachbarn zu einer der führenden Tech-Nationen in Europa zu werden möchten.