In Zusammenarbeit mit AI Startup Rising | hessian.AI und EDITH stellen wir jeden Monat spannende KI-Startups aus Hessen vor. Grundlage für diese Artikelreihe bildet die 2024 erstmals veröffentlichte, nach Branchen geclusterte „AI Startup Landscape Hessen“. In diesem Artikel steht die Energiebranche im Mittelpunkt. Im Gespräch mit vier der insgesamt 14 gelisteten Startups gehen wir den Fragen nach, welche Rolle Künstliche Intelligenz für die Energiebranche spielt und welche Lösungen KI Startups aus Hessen schon heute anbieten.
Erneuerbare Energieerzeuger sind der sichtbarste Ausdruck der Energiewende. Um deren Fortkommen zu belegen, werden fleißig Windränder gezählt und Solarpaneele summiert. Und tatsächlich: Der Umbau der Stromerzeugung in Deutschland ist in vollem Gange. Im ersten Halbjahr 2024 stammten mehr als 60% des Stroms aus erneuerbaren Energieträgern. Doch der Blick auf die Erzeugerseite allein greift zu kurz. Auf Verbraucherseite müssen die Waschmaschine, das Datencenter oder die Fabrik effizient und flexibel betrieben werden. Erzeuger und Verbraucher müssen zudem jederzeit ausgeglichen sein, was Netzbetreiber herausfordert und den Bedarf an Speicherkapazität erhöht. Dieser Artikel wirft einen Blick hinter die Kulissen der Energiewende. Er nimmt deren stille Helden in den Fokus, die am Backend des Energiesystems tüfteln. Sie haben mit Künstlicher Intelligenz ein neues Instrument an der Hand, das dabei hilft, die wachsende Komplexität des Energiesystems zu beherrschen. So setzen die ausgewählten Startups retoflow, reLi, etalytics und Twinetic KI zunehmend in der Steuerung von Netzen, Speichern und Verbrauchern ein. Aber der Reihe nach:
KI-basierte Steuerung der Netze am Beispiel des Startups retoflow
Leon Thurner will mit seinem Startup retoflow die Planung und den Betrieb der Stromnetze verbessern. Seine Kunden sind Netzbetreiber, die das lokale und regionale Netz steuern. Solche Netze werden durch die vielen neuen Balkonkraftwerke, Ladesäulen und Wärmepumpen immer komplexer. Man stelle sich das Netz als eine Baumkrone mit sehr vielen Ästen (die Ortsstationen), noch mehr Zweigen (die Niederspannungsnetze) und unzähligen Blättern (die Entnahmestellen, bei der EAM in Kassel mehr als 750.000) vor und wünsche demjenigen, der händisch einen Netzplan zeichnen oder die Auslastung abschätzen will, viel Vergnügen. Deshalb stellt retoflow eine Softwareplattform zur Verfügung, auf der Netzbetreiber ihr Netz automatisiert erfassen und beobachten können. Auf der Plattform laufen Geoinformationsdaten (wo liegt das Kabel?), Abrechnungsdaten (wieviel verbraucht Haushalt A?), Messdaten (welche Spannung herrscht an Knoten B?) und Anschlussdaten (wer will wo eine E-Ladesäule anbinden?) zusammen. Aus diesen Daten berechnet retoflow ein Simulationsmodell des Netzes. Das Netzmodell unterstützt die Netzmitarbeiter im Livebetrieb, bei der Bewertung von Anschlussgesuchen und der langfristigen Zielnetzplanung. Nicht jede Automatisierung ist dabei gleich KI. „KI hilft uns vor allem dort, wo Messgeräte z.B. im 15-Minuten-Takt neue Messdaten erzeugen, und somit große Datenmengen anfallen“, sagt Leon. Die eingesetzten KI-Methoden wurden vor der Ausgründung am Fraunhofer IEE und der Uni Kassel in mehreren Promotionsarbeiten evaluiert.
KI-basierte Speicheroptimierung am Beispiel des Startups reLi
Laura Laringe hat sich mit ihrem Startup reLi auf „die Neuen“ im Energiesektor konzentriert: Batteriespeicher. Wenn Laura „Batterien“ sagt, meint sie richtig große Speicher mit einer Kapazität von mehr als 1 MWh. Sie dienen dazu, überschüssige erneuerbare Energie zwischenzuspeichern oder das Netz zu stabilisieren. Als Komponenten im Energiesystem sind Batteriespeicher vergleichsweise neu, da ihre Kosten erst im letzten Jahrzehnt durch technischen Fortschritt stark gesunken sind. reLi bietet den Batteriebetreibern Datenanalysedienste an.Dabei bekommt Laura „ihre“ Batterien eigentlich nie zu Gesicht. Via API werden Daten in die Cloud geladen und dort analysiert. Informationen über Spannung, Stromstärke und Temperatur der Batterie werden in Echtzeit übermittelt. Mithilfe von KI werden Vorhersagen darüber getroffen, wie die Batterie voraussichtlich altert. Darauf aufbauend werden Empfehlungen für eine optimale Betriebsstrategie gegeben, um die Batterie über ihren Lebenszyklus bei guter Gesundheit zu halten. „Jede Batterie ist anders“, sagt Laura über ihre „Schützlinge“. „Wir nutzen daher Daten von jeder individuellen Batterie, um gute Vorhersagen zu machen“. In den Anfängen ihres Startups war es schwer, an diese Daten heranzukommen. Denn Laura und ihr Team waren naturgemäß nicht im Besitz ihrer teuren Untersuchungsobjekte. Um sich zu behelfen, kaufte reLi einen Batterie-Zyklisierer, ein Testgerät, das Batterien im Schnelldurchlauf wiederholt auf- und entlädt. Mithilfe der Labordaten wurden dann erste KI-Modelle trainiert.
KI-basierte Betriebsstrategien für Verbraucher am Beispiel der Startups etalytics und Twinetic
Niklas Panten betrachtet mit seinem Startup etalytics die Verbraucherseite. Seine Kunden sind industrielle Großkonzerne, etwa aus der Chemie- und Automobilbranche, sowie Rechenzentren. Der Energieverbrauch in diesen Branchen ist hoch und das Einsparpotenzial entsprechend groß. „Außerdem ist die Zielgruppe weitgehend durchdigitalisiert. Mit unserer Lösung setzen wir die Königsklasse der KI um. Wir überwachen und steuern kritische Infrastruktur. Keine Produktionsstraße darf stehen und kein Server abstürzen, nur weil die Kühlung nicht funktioniert. Wir machen Auswertungen in Echtzeit und generieren automatisiert Aktionen. Deshalb sind wir auf eine hohe Datenverfügbarkeit und -qualität angewiesen“, sagt Niklas. Die Energiesysteme, die etalytics betrachtet, sind komplex. Niklas zeigt eine Folie – eine Art Wimmelbild – mit vielen Anlagen wie Kühltürmen, Pumpen oder Kältemaschinen. Die Anlagen sind mit bunten Linien verbunden, sie hängen miteinander zusammen. „Dort, wo Ingenieure mit konventionellen Betriebsweisen an Effizienzgrenzen stoßen, versuchen wir als eine Art Dirigent alle Energiewandler ideal zu orchestrieren. Dabei antizipieren wir das Verhalten aller Akteure und finden auch verstimmte Instrumente, z.B. Anlagen mit Wartungsbedarf.“ Im Durchschnitt spart etalytics seinen Kunden 25-40 % der Energiekosten in Heizungs-, Lüftungs- und Klimasystemen ein. Die Idee dazu entstand ebenfalls in einem Forschungslabor, der ETA-Fabrik, an der TU Darmstadt. Sie diente den Gründern als Spielwiese und verschaffte ihnen wertvolle Industriekontakte.
Auch das Startup Twinetic (bei Entstehung der Landscape noch I3D Energy) ist aus einem Forschungsprojekt hervorgegangen. Im Vorhaben EnEff Campus stellte die Verwaltung der TU Darmstadt den Wissenschaftlern den eigenen Campus als eine Art Reallabor zur Verfügung, bis dahin ein Novum. Der Campus eignete sich als eigentums- und planungsrechtliche Einheit und durch die Nutzungsvielfalt (Büros, Labore, Hörsäle) besonders, um das Energiesystem eines ganzen Quartiers abzubilden. Künftig will Twinetic mit seiner Energiemanagement-Plattform Mittelständlern und Kommunen helfen. Hier ist laut Christopher Ripp, einer der Gründer, noch digitale Pionierarbeit zu leisten. Deshalb hilft Twinetic auch bei der Digitalisierung und Datenerhebung, etwa bei der Installation von Messtechnik oder der manuellen Datenvorverarbeitung. Einmal vorhanden helfen die Daten Energiemanagern dabei, CO2-Emissionen über alle Energieformen hinweg automatisiert zu bilanzieren, KI-basierte Bedarfsprognosen zu erstellen und den Energiebetrieb kontinuierlich zu optimieren. Perspektivisch will Twinetic durch die Einbindung großer Sprachmodelle außerdem die schriftliche Erstellung von Nachhaltigkeitsberichten beschleunigen.
Die Startups aus dem Energiesektor arbeiten in einer KI-Schlüsselbranche
Die vorgestellten Startups zeigen, wie vielfältig die Anwendungsmöglichkeiten von KI im Energiesektor sind. Die strategische Bedeutung der Technologie für die Branche wurde jüngst auch im Draghi-Report zur Zukunft der europäischen Wettbewerbsfähigkeit hervorgehoben. Laut Bericht könnte die Energiebranche mit am stärksten von KI profitieren: Der Marktwert für KI-Anwendungen im Energiesektor wird auf bis zu 13 Mrd. USD geschätzt. retoflow, reLi, etalytics und Twinetic arbeiten daran, einen Teil dieser Wertschöpfung in Europa zu erbringen. Sie haben darüber hinaus weitere Gemeinsamkeiten:
1. Alle vier sind Deep Tech-Unternehmen, die ihren Ursprung in der Wissenschaft haben. Ihr Beispiel unterstreicht die Relevanz der Forschung und Startup-Förderung für den Standort Hessen, Deutschland und Europa.
2. Daten sind der Rohrstoff jeder KI-Anwendung. Ohne Daten, keine (künstliche) Intelligenz. Eine digitalisierte Energielandschaft ist somit die Voraussetzung, dass die Lösungen der Gründer:innen Wirkung zeigen.
3. KI ist für sie alle ein neues und wichtiges Instrument, um ein zunehmend komplexes System zu steuern. Klassische Methoden der mathematischen und physikalischen Modellierung behalten aber weiterhin ihre Gültigkeit. Erst in der Kombination mit Domänenwissen entfaltet KI ihr volles Potenzial. Als reine Black Box wird sie hingegen nicht eingesetzt.
Alle Interviewpartner sind Überzeugungstäter, denen die Energiewende nicht nur eine Geschäftsmöglichkeit bietet, sondern eine Herzensangelegenheit ist. Sie zeigen mit ihrem Beispiel, wie Ökonomie und Ökologie Hand in Hand gehen können.

Diese KI- Landkarte ist eine Initiative des Projekts AI Startup Rising von dem Hessischen Zentrum für Künstliche Intelligenz (hessian.AI) und wird in Zusammenarbeit mit bmh, Starthub Hessen/ HTAI, STATION, AI Hub Frankfurt RheinMain, TechQuartier, Highest, Start2, StartMiUp, Science Park Kassel, EXIST sowie EDITH (weiter-) entwickelt und vom Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) gefördert.
Mehr dazu hier. Die Printansicht des Posters ist hier zum download verfügbar.
Über die Artikelreihe
Hier geht es zu weiteren Artikel aus der Artikelreihe „Hessens KI-Vorreiter“ und hier zu weiteren Artikeln mit dem Schwerpunkt Künstliche Intelligenz.
Die Artikelreihe „Hessens KI-Vorreiter“ zeigt, wie Startups mit KI-Innovationen frischen Wind in die verschiedensten Branchen bringen. Der nächste Artikel wird den Fokus auf KI- Anwendungen im Health-Care Sektor legen. Die Reihe orientiert sich am Branchencluster der AI Startup Landscape Hessen. Diese KI- Landkarte ist eine Initiative des Projekts AI Startup Rising von dem Hessischen Zentrum für Künstliche Intelligenz (hessian.AI) und wird in Zusammenarbeit mit bmh, Starthub Hessen / HTAI, STATION, AI Hub FFM, Tech Quartier, Highest, Start2, StartMiUp, Science Park Kassel, EXIST sowie EDITH (weiter-) entwickelt und vom Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) gefördert. Ansprechperson und Co-Autorin des ersten Artikels: karin.gessler@hessian.ai, AI Startup Rising | hessian.ai